Joachim Baur
WINDOWS OBERFLÄCHE 1994/95
Joachim Baur oder
die Refunktionalisierung des Dekors
Die ungestümen Energien des Barock kommen in der dekorativen Pracht des Spiegelsaals des Palais Herberstein auf fantastische Weise zur Geltung. All das, was man sich unter Extravaganz, Prunk und Fantasma des Barack vorstellt, überschäumende und feudale Lebensfülle, kulminiert in der ästhetischen Repräsentation des Spiegelsaals, der sich aus der Tradition der historischen Spiegelkabinette der Spätrenaissance entwickelt hat. Der >Spiegelsaal< ist Teil der Neuen Galerie am Landesmuseum Joanneum, die im barocken Palais Herberstein situiert ist. Welchen Festen und welchen sozialen Funktionen auch immer der Spiegelsaal gedient haben mag, heute ist er Teil eines Museums und seine visuelle Pracht nur mehr ästhetisches Ornament, ein prunkvoller, aber leerer >Rahmen<, der nostalgisch stimmt, vielleicht Sehnsüchte nach vergangenen sozialen Systemen und aristokratischen Lebensstilen weckt. Wer nun im leeren Rahmen des Dekors, eines Dekors ohne Funktion, ohne seine historische Aufgabe, operiert, interveniert auch im Reich der Fiktionen, im Reich der sozialen Systeme. Baur macht diese geschichtlichen Linien des Stukkaturgold sichtbar. Joachim Baur gelingt dabei mit seiner Installation >Windows Oberfläche< von 1994 etwas ganz und gar Erstaunliches, nämlich die Refunktionalisierung des Dekors. Auf einem Arbeitsgerüst, das unmittelbar das Bild der Arbeit evoziert, auf dem der Luxus der Repräsentation aufgebracht ist, befinden sich an einem Ende ein Videoplayer und auf dem anderen Ende ein Monitor. Das Leitungskabel des Senders endet offen an einer vergoldeten Stukkaturlinie des Plafonds. Nach einigen Metern beginnt ein neues Leitungskabel, das an einer gleichen vergoldeten Dekorlinien der Plafondstukkatur befestigt ist und zum Monitor führt, wo man einen Blattgoldschläger an der Arbeit sieht. Das elektronische Bild zeigt also wiederum eine Arbeitssituation, wie schon das Gerüst. Diese Arbeitssituation wiederum verweist durch das verwendete Material (Gold) und die Arbeitstätigkeit auf das vergoldete Dekor im Spiegelsaal. Hinter der Repräsentation tritt die Realität hervor. Die ästhteische Schäbigkeit und Kargheit der Installation kontrastiert mit der Pracht der Feudalästhetik des Festsaals. Aber mit der bloßen Darstellung von Arbeit blieben wir im Code der Repräsentation, blieben wir im bürgerlichen Code gefangen, dass Kunst nicht Wirklichkeit herstellt, sondern nur in Bildern darstellt. Gerade diesen Code durchbricht Baur indem die goldenen Dekorlinien tatsächlich als Leitungsbahnen für Bildsignale realiter fungieren. Was Dekor war, wir funktional. Mit dem Durchbrechen der Code-Ebenen bricht Baur auch die Klassen- Ebenen. Es ist aber nicht nur der Bauer oder Fabriksarbeiter, der den Palast (der Träume) stürmt, sondern es ist der moderne Techniker mit der modernen telematischen Bildtechnologie. Baur führt damit den überflüssigen visuellen Schaum einer vergangenen Epoche, das Reich der leeren Dekorationen zum Dreck der Realität, zur pragmatischen Funktionalität zurück. Der Rahmen als pures Ornament wird überraschend zu einem industriellen Arbeitsfeld. Die Goldlinien der Stukkaturvergoldung verweisen auf die Goldlinien der Leiterbahnen, wie sie für die enorme Betriebssicherheit miniaturisierter Elektronikbauteile verwendet werden. Neue soziale Ordnungen jenseits des Ornaments tauchen als Visionen auf. Mit der Refunktionalisierung der ornamentalen Natur des Interieurs werden nicht neue soziale Visionen, alte Alchemisten- und Utopisten-Träume beschworen, sondern auch die konventionellen ästhetischen Normen der Moderne gebrochen. Formale Autonomie der Kunst erscheint als Dekor und als Ornament des Kapitals. Hier wird das Gold symbolisch abgewertet, denn es dient, es dient als Leiterbahn, als banales >Kabel< für elektronische Information. Die Installation stellt also nicht nur Fragen an den Raum an die historische Funktion des Spiegelsaals, sondern auch Fragen an die Funktion der Kunst. Baurs Arbeit ist nicht nur eine Kritik am dekorativen Ornament, an der Institution Museum, sondern auch an der Funktion der Kunst, wie sie eine gewisse Spielart der Moderne definiert. Bei dieser Analyse geht Baur auf die Ideen des Gründers des Landesmuseum Joanneum zurück, also auf die aufklärerische Tradition der Kunstauffassung. Erzherzog Johann, der Regent des Bundeslandes Steiermark, deren Hauptstadt Graz ist, gründete 1811 das Joanneum, das älteste Museum von Österreich, als naturwissenschaftliche und technische Forschungsstätte. Daraus ging 1864 als erste Verzweigung die technische Universität Graz hervor. Baurs Installation verweist auf diese erste Erweiterung der Museumsidee und deren technische Grundlage. Auch seine telematische Installation ist eine Erweiterung, eine elektronische Erweiterung des Spiegelsaals der Neuen Galerie, des Museums. Die Verwendung telematischer Geräte, mit deren Hilfe in die Ferne gesehen werden kann, verweist ebenfalls auf den Gründungsgedanken, dessen Ziel ja auch war, in die Ferne zu sehen, über lokale Begrenzungen hinauszugehen. Das Museum, der Idee einer technischen Forschungsstätte entsprungen, kehrt mittels des Baurschen elektronischen Environments (im Spiegelsaal) wieder zur ursprünglichen Funktionsbestimmung zurück: das Museum als Schnittstelle einer Erweiterung (von Kenntnissen, von Raum und Zeit, von Vorstellungen), als Leitbahn, als Arbeitsinstrument, als Vorposten eines unbekannten Außens (Aus-Stellung als nach außen stellen und fühlen). Dies ist der Kern von Baurs Botschaft der Refunktionalisierung des Dekors.
Mit dem weiteren Transfer der Grazer Ausstellung nach Holland, mit dem Tausch von räumlichen Elementen des Spiegelsaals nach Holland in ein anderes Museums, hat Baur die Aspekte der Leiterbahn der Leitstelle, der Erweiterung, der Telematik, der Aus(sen)stellung des in die Ferne Sehens als Funktion von Kunst und von Museum noch enorm verstärkt.
Baur has accomplished a great feat of contextual art.
Peter Weibel
(aus: Katalog “WINDOWS OBERFLÄCHE / SURFACE” Neue Galerie am Landesmuseum Joanneum, Graz, 1995)